Freitag, 30. März 2018

Auf dem (Frauenkreuz)Weg

Mitgestalten und Abladen


Wie mich Zufälle und Fügungen den Evangelischen Frauen in Württemberg nahe bringen und worin es (zunächst) mündet.

Abschied.

Die letzten beiden Wochen waren in meinen Gedanken und Gefühlen völlig überdeckt vom Tod meiner Freundin Kirsten. Dieser Verlust erscheint so ungerecht und fürchterlich, dass mir die Worte fehlen. Wie kann mein Herz nur derart unvorbereitet sein, obwohl der Verstand im Vorfeld Zeit genug fürs Begreifen hatte? Alles in mir wehrt sich gegen das Verstehen!

Entwicklung.

Letzten Sommer hatte ich ein Seminar besucht, dort Zeit zum inspirierenden Gespräch zwischen den Schulungsblöcken gefunden, Ideen gesponnen: Ich wollte mitmachen beim ökumenischen Frauenkreuzweg in Stuttgart. Ich war auf einen Zug aufgesprungen, der nun für mich viel zu schnell fuhr. Auf einmal werde ich gebeten zu liefern, muss mich nackig machen vor der Öffentlichkeit, bekomme Angst vor meinem eigenen (Über-)Mut.

Auf dem Frauenkreuzweg, auf dem Weg.

Und jetzt ist es wieder soweit, es wird Ostern. Völlig verdrängt, passt das Fest plötzlich zu mir und zu meiner Stimmung. Denn zunächst ist heute Karfreitag. Ich begebe mich also auf meinen ersten Frauenkreuzweg. Jesus ist am Kreuz gestorben, auch für mich. Auch für mich? Gar nicht so sattelfest im Glauben, habe ich viele Fragen. Ich fühle mich getragen von den Frauen und Männern um mich herum, von der Musik, so dass ich mich trauen kann, vorzutragen, was ich zu sagen habe. 

Hinterher.

Ich komme nach Hause, brauche zuvor den Cappuccino im Café und die Fahrt in der U-Bahn zum Sammeln und Nachdenken. Zwei Stunden zuhörend und schweigend Unterwegssein durch die Stadt mit Ziel und Abschluss in der Hospitalkirche hinterlassen Eindruck. Ich fühle mich sortierter, ruhiger. Ich glaube, ich habe eine ganze Menge Ballast in der Hospitalkirche gelassen. Mir kommen die Tränen, so Vieles ist abzuladen. Es ist nicht alles gut. Doch es wird Ostern, auch für mich.

Mein Vortragstext zum Nachlesen: Station 3, Essstörungen.

Ort: Marktplatz/Ecke Schulstraße

„Mama, toll, Du hast wieder Nutella gekauft!!“
Inbrünstig ruft dies mein jüngster Sohn, als er auf der Suche nach einem Brotaufstrich auf das neue Glas stößt. Er freut sich unbändig, mich trifft seine Begeisterung ins Herz. Plötzlich und unerwartet.
Warum? Ich kenne sie nicht, diese Freude über etwas, was man essen kann. Diese Sehnsucht nach einem Lieblings-Lebensmittel. Diese Vorfreude. Diesen Genuss, wenn es endlich wieder Nutella gibt. Ich habe das noch nie gekannt.
Ich bin Kathrin (…). Ich war 13, als ich krank wurde; jetzt bin ich 43. Das macht 30 Lebens-Jahre, die immer wieder durchkreuzt wurden von Episoden schwerer Essstörungen. Während dieser Jahre ging ich zur Schule, dann lange ins Ausland, anschließend Studium, Beruf, Hochzeit, Familiengründung, Hausbau, wieder Beruf... Völlig normal, ein durchschnittlich schönes Leben, von außen betrachtet. Schaue ich heute in mich hinein – oder besser: zurück – war es nicht schön, sondern vor allem eines: schwer. Auch schön, aber – wie gesagt – durchkreuzt.
Es gibt Essstörungen in vielerlei Ausprägung. Ich war anorektisch, d.h. ich habe die Nahrungsaufnahme komplett eingestellt. So bin ich sehr dünn geworden, meine Nerven ebenso wie mein Körper. Dem Schlankheitswahn sichtbar verfallen.
Ich war und bin bulimisch, d.h. ich erbreche selbst induziert die Lebensmittel, die ich während ausgeprägter Essanfälle verschlungen habe. In meinen schlimmsten Zeiten bis zu 7 oder 10 Mal am Tag. Der Konsumgier verfallen, jedoch absolut im Verborgenen, stets heimlich. 
Die Gedanken kreisen unaufhörlich in unendlichen Spiralen um alles und nichts, insbesondere ums Essen, um Erlauben und Verbieten, ums Verstecken, um die Waage und reduziertes Gewicht, um die nächste Sport-Möglichkeit. Über die Jahre wurde ich außerdem (oder dadurch ?) schwer depressiv, auch suizidal. Ich habe eine Panikstörung entwickelt und starken, stressbedingten Tinnitus bekommen. Nicht zu vergessen die bleibenden körperlichen Schäden wie bspw. eine verletzte Speiseröhre.
So geht es nicht nur mir. Während meiner Klinikaufenthalte habe ich viele essgestörte Mädchen und Frauen, auch Männer, getroffen. Uns verbindet der Wunsch, es allen recht zu machen und am liebsten gar nicht aufzufallen. So gut oder besser als alle zu sein, so dünn wie der Rest der Welt scheinbar ist. Und dabei doch gesehen zu werden. Jedoch: Dieses Ziel ist nicht zu erreichen. Der dünne Körper ist nie dünn genug. Unsere Mittel entspringen nicht dem natürlichen Ehrgeiz oder gar Körpergefühl, sondern einer massiven Störung. Einer Störung mit Suchtcharakter: Ess-Brech-Sucht, Mager-Sucht, Fress-Sucht, so werden sie genannt.
In Zahlen:
  • Früher waren vor allem Mädchen und Frauen von Essstörungen betroffen. Heute sind ca. 10 Prozent der Betroffenen Jungen und Männer.
  • Insgesamt sind in Deutschland rund 440.000 Menschen erkrankt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich um ein Vielfaches höher.
  • Ein Beispiel, ein Versuch, ganz praktisch zu helfen: Am Schillergymnasium in Marbach gibt es Multiplikatoren (Lehrer) für Essstörungen; Statistiken zufolge könnten ca. 400 Schülerinnen und Schüler allein an dieser Schule betroffen sein. Die Initiative klärt auf und hilft konkret im Bedarfsfall.

Der Suchtcharakter macht es auch so schwierig, den Teufelskreis aus Essen und Erbrechen oder Nicht-Essen zu durchbrechen und die Essstörung hinter sich zu lassen. Ein suchtkranker Mensch agiert im Verborgenen, ganz geheim und ganz allein – oder in scheinbarer Gemeinschaft im Internet. Der Krankheitsverlauf ist langwierig, oft lebenslang, häufig von Rückfällen begleitet, sehr ernst und kann durchaus lebensbedrohlich sein.
Der Ausstieg geht trotzdem:
Es gilt, die Basics zu lernen: 3 oder 5 Mahlzeiten am Tag einzuhalten, das Essen zu schmecken, Appetit und Hunger zu entwickeln, auch das Sattsein zu kennen. Es gilt zu üben, mühsam das eigene Verhalten bewusstzumachen: jeden Tag, vor jeder Mahlzeit, bei jedem Snack, bei jedem aufkeimenden Bedürfnis nach Nahrung, bei jedem Supermarktbesuch, beim Durch-die-Stadt-Schlendern, bei Essenseinladungen und beim Familienkochen. Immer muss ich Maß halten. Intuitives Essen, wie meine Söhne es tun, kann ich nicht. Es geht darum, den Umgang mit Essens-Situationen zu verändern.
Jedoch, meiner Erfahrung nach gelingt dieser Weg niemals alleine, sondern nur mit therapeutischer und ärztlicher Unterstützung. Es bedarf großen Mutes und gleichzeitig großer Verzweiflung, sich zu öffnen. Vom Annehmen erster Hilfe keimt dann die Hoffnung auf ein anderes, neues Leben, ein Leben ohne Zwang. Hoffnung wird zu einer Perspektive. Für mich heißt das: Ich kann meinen Körper nicht annehmen, er ist niemals richtig und in Ordnung. Darum gehört zum neuen Leben auch, meinen eigenen, sich durch Gewichtszunahme, Schwangerschaften und Alter verändernden Körper Stück für Stück zu mögen... Mit seinen Formen und Rundungen, in seiner weiblichen Schönheit... Zum neuen Leben gehört, meinen Körper wertzuschätzen, das, was er schon geschafft hat. Ich habe nur diesen einen.
Und da stehe ich nun. Hier an der Fressgasse.
Wieder im Leben, voller Staunen. Dafür bin ich dankbar.

Quellen: 
Früher galten Essstörungen als „typisch weibliche“ Erscheinung, heute erkranken auch zunehmend Jungen und Männer. Rund 77 % der normalgewichtigen 11-bis 17-jährigen Mädchen und Jungen in Deutschland fühlen sich etwas oder viel zu dick; 29% der Mädchen und gut 15% der Jungen zeigen Symptome eines gestörten Essverhaltens.
Erhebung der Barmer GEK:  Die Zahl der Betroffenen stieg bundesweit zwischen 2011 und 2015 um etwa 13 Prozent. Waren 2011 noch rund 390.000 Menschen von Essstörungen wie Bulimie oder Magersucht betroffen, litten vier Jahre darauf bereits 440.000 darunter. (…) Die Dunkelziffer dürfte nach Einschätzung der Kasse aber noch "um Vielfaches höher liegen".
Der Anteil der Männer mit Essstörungen beträgt schätzungsweise rund ein Zehntel. So sind von 100 Magersucht-Patienten der Schön-Kliniken rund acht Prozent männlich, bei Bulimie (Ess-Brechsucht) liegt der Wert bei etwa 15 Prozent. Von der Essstörungs-Krankheit Binge-Eating-Disorder sind rund 20 Prozent Männer betroffen.
Schillergymnasium Marbach:

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...