Sonntag, 2. Februar 2020

Wochenend-Alltag auf Bulimisch

Jeden Tag beginne ich von vorne, Weglaufen geht nicht. Montag bis Freitag, dann Wochenende, die härteste, weil unstrukturiertere, freiere Zeit. Wieder ist also Samstagabend, inzwischen Sonntagfrüh; ich habe einen Tag geschafft: Mit der Familie, mit Haushalt, Einkauf, Kochen, Backen und Essen. Im Zwiespalt zwischen Pause und Gefahr. Achtung: offen, ehrlich.

Freitag...

war ein schlechter Tag. Ich wollte erbrechen, aber meine Psyche hat zugemacht - es ging nicht alles raus. Verzweiflung, dann Gleichgültigkeit rangen jeden Widerstand nieder, ich griff später oft und schnell in die Schüssel mit den Chips, eine zweite Tüte wurde geöffnet und geleert. Dazu ein weiteres Glas Wein. So beginnt ein Wochenende auf Bulimisch.

Samstag also. 

Gnadenlos. Ehrlich.
Am Morgen war ich nach einem kleinen Frühstück beim Sport. Ohne Frühstück fehlt mir die Energie und ich gerate in den Unterzucker, mein Kreislauf bricht ein. Um genau das zu vermeiden, esse ich immer eine Kleinigkeit, die während der Bewegung nicht belastet. Es hat Jahre gedauert, bis ich gelernt habe und umsetzen konnte, dass mindestens die Energie VOR dem Sport in meinem Magen bleiben muss. Kein Gelage mit Brötchen, Butter und Nutella, kein Erbrechen also, eine Vernunftentscheidung für eine Scheibe Vollkornbrot mit Käse. Freude, Ausgelassenheit beim Trampolinspringen - volle Energie, volle Kraft, hinterher erfüllte Erschöpfung und Ausgeglichenheit, sogar Stolz.

Notwendig. Ein Beispiel.
Nach einem Ausflug auf den örtlichen Wochenmarkt, gefolgt vom Großeinkauf im Discounter, dann die erschöpfte Erschöpfung: Leere, Ärger und Wut darüber, dass wieder ich diejenige bin, die mit den Kindern den Essensplan schreibt und den Kühlschrank füllt. (Einschub: Im Delegieren bin ich keine Meisterin, nur im Runterschlucken und Abwickeln. Ob sich das wohl in diesem Leben nochmal ändert? Nein, ob ich das in diesem Leben wohl noch ändern kann?) Nun überfällt mich der Hunger: So lange habe ich darauf hingearbeitet, Hunger zu spüren, zu erkennen. Jetzt hasse ich meinen Hunger! Die Familie hat gerade erst gefrühstückt, es gibt kein gemeinsames Essen mit sozialer Kontrolle. Ich bin sehr einsam in meinem Kampf - und doch nicht alleine, das Haus tobt und lebt. Was ich schaffe: Joghurt mit Blaubeeren, zwei Scheiben Vollkornbrot dazu, alles im Stehen in der Küche, gespült mit sehr viel Flüssigkeit. Ausgetrickst, dann klappt das Erbrechen nämlich nicht...

Der Samstag vergeht mit Alltäglichem: Dem Spagat zwischen Waschmaschine und Hausaufgaben der Kinder, Bad- und Kloputzen, Telefonaten, Wochenabwicklung und -vorausplanung, tiefgehenden Gesprächen mit einzelnen Söhnen, Bürokratie und Ablage. Das ist z.T. ärgerlich (s.o.), wiederholt sich unendlich, birgt aber auch sehr schöne Familien-Momente. Ich mag es, mit einem Sohn im Arm auf dem Sofa zu sitzen und Dinge zu besprechen. Oder mit einem anderen Liegestütze zu machen, er gewinnt natürlich. Oder mit dem dritten zu versuchen, Ableitungen irgendwelcher mathematischer Formeln zu generieren. Diese Gelegenheiten ergeben sich (fast) ausschließlich am Wochenende. Schön ist das: Zeit haben. Zeit vergehen lassen. Ohne Termine.

Eigentlich verboten.
Wäre da nicht noch die Sache mit dem Essen. Ich hasse das Essenmachen! Ständig streift mich schließlich während des Tages der Gedanke an die nächste Mahlzeit, an die Kekse und die Schokolade im Schrank, ich plane strategisch eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme und esse bewusst, was in meinem Magen kollidiert, mische beispielsweise Apfel und Espresso mit körnigem Frischkäse. Dann ist mir schon schlecht und der Fressdruck lässt nach. Wieder ausgetrickst? Wir alle müssen essen: Meine Söhne bekommen plötzlich Hunger, dann stehen sie erwartungsvoll in der Küche. Am Wochenende hilft meist einer von ihnen beim Kochen. Das ist gut für mich, zerstreut es doch den Hass. Zumindest ansatzweise. Zum Glück kann ich feststellen: Die Häufigkeit lässt seit Jahren kontinuierlich nach, diese Fixierung auf Essen, das Gedankenkreisen. Mein hartes Training in Therapie und Beratung fruchtet, endlich. 

Backen macht Freude?
Normales Familienleben beinhaltet leider nicht nur regelmäßige Mahlzeiten, sondern auch eine gewisse Verfügbarkeit von Süßigkeiten ebenso wie hin und wieder Kuchenbacken und -essen. Das Backen ist ein echtes Hobby von mir, am liebsten filigran und mit viel Aufwand. Wenn die Ergebnisse nur nicht so gut schmecken (hah! Ich kann schmecken, das war früher nicht so!) und den Drang nach MEHR erzeugen würden. Die eigentliche Arbeit beginnt für mich erst nach dem Backen, wenn das fertige Produkt abgekühlt und schön dekoriert auf der Platte steht. Ich  überdecke das Backwerk stets mit einer gläsernen Tortenhaube, um den Zugriff zu erschweren. 

In meinem Kopf schichte ich Kuchen und Schokolade abwechselnd mit einigen Schlucken Wasser; des Süßen überdrüssig ergänze ich helles, weiches Brot mit viel Salzbutter und Käse, dazu bittersüßen Saft, und und und... Wie gesagt: Nur in meinem Kopf. Bis ich wirklich anfange zu essen. An guten Tagen gönne ich mir einen Kaffee, es bleibt bei einem Bissen oder Stück. Ich kann mich daran freuen. Hin und wieder kippt's, aus dem guten wird ein schlechter, manchmal auch ein mieserabler Tag. Ich verliere das Maß, fassungslos mich selbst betrachtend, durchaus wahrnehmend was ich da tue. Dann schichte ich in meinen Bauch, sehr real, Kuchen auf Kuchen auf Schokolade auf fetten Käse.

Fetter Rest.
Endet die Geschichte auf dem Klo und ich werde den Mageninhalt wieder los, fühle ich grenzenlose Erleichterung. Und totale körperliche Erschöpfung, Schmerzen. Macht die Psyche zu, gelangt nicht alles in die Schüssel, bin ich sehr verzweifelt ob des Versagens. Bleibe ich der Toilette fern, unterdrücke ich den Drang zu erbrechen, geht es mir mental auch nicht besser. Ist letzteres also ein Sieg? In gewisser Weise schon, denn: Mir ist übel, ich kann mich nicht bewegen, mein Bauch ist schwer wie mit Steinen beladen und zieht mich nieder. Liegen oder gar schlafen geht ebenso wenig, mein gesamter Körper brennt vor Scham und Fülle. Meist dauert es einige Stunden, bis ich überhaupt an das nächste Essen denken kann. Das bedeutet für mich Erleichterung. So viel zum Sieg. Ein Sieg fühlt sich in meinem Fall nicht immer gut an. Auch das musste ich lernen: Ein Sieg kann elend sein, schließlich wird dieser Sieg beim Schritt auf die Waage wieder mehr Gewicht bedeuten...

Wie geht nun dieser gestrige Samstag vorüber? Auf dem Sofa, mit eineinhalb Gläsern Rotwein, ohne Nascherei. Wobei, das letzte Blätterteig-Teilchen findet dann doch um Mitternacht noch den Weg in meinen Bauch. Reste sind eine böse Falle. Tapfer protokolliere ich alles, auch derlei Niederlagen. Mir ist zum Heulen.

Und jetzt der Sonntag.

Völlig unstrukturiert, sehr frei. Ich fühle mich sogar frei. Nicht leicht, aber befreiter. Im Haus ist frühmorgens noch alles ruhig. Ich nehme Kaffee und Banane mit ins Bett zu meinem Buch, danach bin ich satt. Inzwischen weiß ich sogar, wie sich Sattsein anfühlt! Noch ein Erfolg der Therapien. Erst zur späten Mittagszeit überkommt mich die nächste Hunger-Attacke. Nahezu gelassen wähle ich die gestrige Verpflegung mit Joghurt, Obst und Vollkornbrot, um die Törtchen mache ich einen Bogen. Es fällt mir gar nicht so schwer, die Fixierung, das Hadern und innere Verhandeln sind einer gewissen Entspanntheit gewichen. Ich weiß: Die nächste Mahlzeit muss zubereitet werden, ich werde mir einen Sohn zum Helfen und Zerstreuen dazu bitten. Ich will versuchen, errungene Strategien umzusetzen und beim Essen meine Portionsgrößen einhalten. Am Ende des Tages wartet ein Schluck Wein auf mich, bevor ich bis zum nächsten Freitag ohne Alkohol sein will.

Mein Tag ist noch nicht geschafft. Ich schaue voraus, ich plane vorweg, ich wäge ab, ich schreibe auf. Das geht nicht unbeschwert oder gar leicht. Im Gegenteil. Aber ich muss es tun, jeden Tag, jeden verdammten Tag, um durchzuhalten und dran zu bleiben, um mich nicht dem Absturz hinzugeben. Denn ich weiß ja, was dann folgt...

Damit geht mein Wochenende auf Bulimisch ohne größere Fressanfälle vorüber. Vielleicht kann ich etwas von meiner Entspanntheit mit in die kommende Woche nehmen. Das wäre schön. Und ein echter Therapie-Erfolg.

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...