Mittwoch, 25. März 2020

Essgestört. Gefangen mit Corona.

Für alle die, die genauso kämpfen wie ich.
An all' jene, die versuchen zu verstehen.

Nach einem für mich persönlich schwierigen Herbst und Winter ("Sie sind chronisch krank") und dem Aufrappeln ("Wochenend-Alltag auf Bulimisch") mit viel Willenskraft zu Beginn des frischen Jahres, hat die Welt nun Corona, besser: COVID-19 - das Coronavirus SARS-CoV-2, fest im Griff. Ich bin dankbar, dass meine Familie und ich sowie meine Herzensmenschen gesund sind, und ich bin außerdem ganz fest davon überzeugt, dass wir gemeinsam diese Krise bewältigen werden. Allerdings begleiten mich Tag für Tag nicht nur die virusbedingt notwendigen Einschränkungen, sondern auch meine eigene Geschichte. Und die geht bekanntlich so:

Kathrin. 45. Essgestört. Suchtkrank. Depressiv. Das bin ich.
Und jetzt auch noch im Gefängnis mit Corona.

always@home.
Nicht in häuslicher Quarantäne zwar, aber herausgerissen aus meinen Strukturen und mühsam etablierten Abläufen, den Ritualen, Freiheiten und allem, was mir bisher Halt gab.

Oft genug scheitere ich im Alltag ohnehin: Dann überfällt mich die Gier, der Fressanfall endet mit quälendem Erbrechen auf der Toilette, mit körperlichem Zusammenbruch sowie mit Lügen und Verstecken, mit tiefster Scham ob dieser Niederlage - und mündet sogleich in den nächsten Anfall. Oder im Griff zum Rotwein, einem überfüllten Magen. Ich habe verstanden, dass ich viele suchtgesteuerte Varianten leben kann, um dem wachsenden Druck in meinem Innern ein Ventil zu geben.

Jetzt, mit Corona als ungebetenem, aber allgegenwärtigem Gast in Haus, Kopf und Geist, in jedem Gespräch, in den Augen meiner Söhne, muss ich mich umstellen. Niemand geht mehr morgens zur Schule oder Arbeit, statt dessen gelten Homeschooling und Homeoffice. Musik-, Sport- und Therapietermine, Besuche finden nicht statt. Alles klar, das schaffe ich.

Es gilt aber auch: Mindestens 3 Mahlzeiten täglich für 5 Personen zuzubereiten. Dafür muss geplant, dafür muss eingekauft und eingelagert werden. Und die Planung, von der ich abhängig bin, ist so eine Sache: Meine mit der Familie entwickelten Wochenpläne sind unbrauchbar, weil die ausgedünnten Bestände in den Supermärkten den Kauf gar nicht zulassen. Ich muss also umdenken und kaufe ein, was im Regal liegt, um daraus irgendetwas zu bewerkstelligen. Möglichst gesund und ausgewogen und für jeden Geschmack passend noch dazu. Ich hasse Kochen und Essen leider immer noch so sehr... Jetzt bin ich täglich gefühlt stundenlang damit beschäftigt.

Alles dreht sich ums Essen.

Bewährtes.
Für mich ist das der blanke Horror. Hatte ich es doch nach so vielen Jahren endlich vermocht, das beständige Gedankenkreisen um diesen Kern meiner Sucht abzubauen. Ich habe das nur mithilfe meines wunderbaren Therapeuten und seiner ausdauernden verhaltenstherapeutischen Begleitung geschafft. Und mithilfe unzähliger Stunden Ernährungsberatung. Gemeinsam mit beiden Therapeuten schaute ich drauf, auf das zwanghafte Dilemma meines Lebens. Dann veränderten wir langsam die Stellschrauben: Zunächst lebte ich nach der Uhr, aß zu festgelegten Zeiten festgelegte Mengen. Dann lernte ich Appetit und Hunger und Sattsein zu unterscheiden. Ich lernte, bei fehlendem Hunger aufs Essen zu verzichten. Ich lernte auch, meine Gefühle zu identifizieren und differenziert zu betrachten. Genauso übte ich, diese Gefühle - gleichgültig ob positive oder negative - in andere Kanäle als den Friss-Brich-Kanal zu leiten. Wir entwickelten Methoden, mich aus der tiefsten Depression wieder ans Licht zu holen. Rituale kamen hinzu, die mir ermöglichen, das allgegenwärtige Essen auszuhalten und mit der Angst vor Kontrollverlust umzugehen. Ich musste mich mit meinem Körper auseinandersetzen, der sich sehr verändert hat. Den Umgang mit Scheitern übte ich. Ich lernte das Aussprechen und Mitteilen.

Und ich habe es wirklich geschafft: Gerade war ich soweit, dass ich zufrieden sein konnte, dass ich jeden Tag irgendwie gut leben konnte mit diesem, meinem Haltegerüst, basierend auf festen Strukturen und einem routinierten Alltag. Dass ich bereit war für neue Herausforderungen. Von einem entspannten Umgang mit dem Essen war und bin ich zwar noch weit entfernt. Essen bleibt Angst-behaftet. Portionsgrößen und Nahrungsmittelmengen bleiben eine Sache des Intellekts, intuitive Automatismen sind in meiner sucht-neurotischen Welt utopisch. Auf die Waage kann ich nicht - ich halte mein Gewicht einigermaßen, sagt die Jeans. Doch ich komme zurecht. Manchmal bin (war?) ich fast befreit.

Gefängnis ohne Halt.

Jetzt stecke ich in einem neuen, nie gekannten Gefängnis (beinahe) ohne Halt. Alle sind zu Hause, wir müssen erst Rückzugsmöglichkeiten schaffen und verteidigen. Es gibt viel Streit und Auseinandersetzung, Einmischung und Regelverletzung und Verweigerung, aber auch viel Zuneigung und Unterstützung.
Dauerschleife.
Zurück zum Essen. Neben den festen Mahlzeiten lockt die Seelennahrung: Meine Söhne, mein Mann brauchen viel davon. Schokolade, Kekse, Kuchen, Chips und Nüsse, alles da, alles geöffnet, alles liegt herum. Ich habe übrigens nichts davon selbst besorgt. Lege ich die Tafel in den Schrank zurück, holt sie ein anderer kurze Zeit später wieder heraus. Chaos und Unordnung überall; inzwischen auch in der Küche, weil niemand mehr mit dem Aufräumen hinterher kommt. Die Kinder kennen meine Geschichte nicht. Warum aber begreift mein Mann nicht, wie hart ich innerlich arbeiten, mit mir selbst argumentieren muss, um nicht immer wieder dem (stets frei zugänglichen) Essen zu verfallen? Um die Kontrolle zu behalten?

Für mich bedeutet ständiges Essen, dass mir das Gespür für meinen Körper verloren geht: Dann empfinde ich keinen Hunger mehr, bin niemals satt. Einmal begonnen, esse ich einfach weiter. Unmengen. Ich kann nicht NICHT an Essen denken! Sondern, im Gegenteil, ich kann nicht mehr aufhören, daran zu denken. Ich tigere um Schokolade und Kuchen herum, pausenlos. So geht mein Halt, meine Sicherheit kaputt. Und das passiert sehr schnell. Dann stürze ich ab. Davor habe ich riesengroße Angst.

Perspektivisch positiv denken.

Die besonderen Umstände erzwingen meinerseits ein bestimmtes Verhalten: Ich kann nicht erbrechen, wenn alle zuhause sind. Das ist gut für meine Gesundheit. Schon häufig war mein Körper nahe dran, aufzugeben. In der momentanen Situation darf mir das nicht passieren - unter keinen Umständen will ich zu einem Arzt oder gar in ein Krankenhaus gehen müssen. Wir bleiben in Bewegung: Mein jüngster und mein ältester Sohn sind sehr sportlich, wir trainieren nun gemeinsam eine Youtube-Challenge oder joggen größere und kleinere Runden. Das macht zusammen sogar richtig Spaß!

Neben der großen Unsicherheit, die ich empfinde, fühle ich - und kann es selbst kaum glauben - eine winzige Spur Gelassenheit. Ich merke, dass ich diejenige bin, die pragmatisch und sehr strukturiert durch den Tag geht. Ich gestalte den Alltag entspannt, helfe den Kindern, beruhige. Das hält die ganze Familie. Ich spüre, dass es funktioniert, dass das Zutrauen der Jungs in sie selbst wächst. Und das gibt mir Kraft zurück. Erstmals merke ich, dass ich wirklich Energie gewinnen kann aus dem, was um mich herum passiert und was ich leiste, was wir als Familie leisten. Das geschieht einfach, ohne mein Zutun: Ich fühle mich nicht komplett ausgesaugt, zwar völlig belegt und auch überlastet, aber auf eine handhabbare Art und Weise.

Das wäre ja etwas, wenn ich so durch die Corona-Zeit käme: Ohne diesen größten inneren Druck, diese tiefe Angst und Verzweiflung, ohne Erbrechen, sondern mit Maßhalten und mit Kraft und Zuversicht. Wenn ich es schaffen würde, meine Strukturen zu flexibilisieren und im Rahmen des geballt-neuen Alltagserlebens umzusetzen.

Die Schlussworte meines letzten Beitrags passen auch hier so gut, dass ich sie erneut verwenden möchte: Das wäre schön. Und ein echter Therapie-Erfolg.



Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...