Wunderbarer Horror.
Herzliches Willkommen. Schockschwere Not. Schnappatmung - Alarm! Blinkende Verbotsliste. Liebevollster Empfang. Mein großgewordener, ältester Sohn. Das Kümmern aushalten. Die Liebe annehmen, egal wie. Mitmachen. Mein Kind retten. Mich retten.
Überraschungen...
... sind nicht so meins. Ich bin abhängig von entsprechender Vorbereitung. Insbesondere wenn es ums Essen geht (3 geplante Mahlzeiten zu festen Uhrzeiten) oder ums Wiegen (immer dienstags und freitags) oder um Sport (montags und mittwochs und manchmal samstags) oder oder oder. Ich funktioniere nur mit Standards, die ich einhalten muss. Sonst wird die Nahrungsaufnahme ruckzuck zur Gefahr, der Bedarf zu groß, reißen meine Halteseile. Natürlich bin ich im Laufe meiner Therapie-Jahre durchaus geübter geworden im Umgang mit Planänderungen, nach wie vor sind sie jedoch eine große Herausforderung für mich.
Würstchen im Schlafrock...
... blinken rot auf meiner Liste der verbotenen Lebensmittel; sie sind ein absolutes No-Go, eine Katastrophe; so wie Pfannkuchen und Prinzenrolle und
Käsekuchen. Damit darf ich gar nicht anfangen, sonst vergesse ich mich und verliere jedes Maß. Allerdings: Würstchen im Schlafrock erwarten mich heute mittag beim Heimkommen aus dem Büro. Es duftet geradezu verführerisch, als ich die Haustür öffne. 2 Bleche schönster, herzhafter Blätterteig-Teilchen werden soeben fertig aus dem Backofen gehoben. Ich liebe Würstchen im Schlafrock mit viel Käse; ich kann 20 Stück davon essen und eine Kilo-Packung Eis hinterher. Ich bin überwältigt. Ich habe Appetit. Mein großer Sohn strahlt vor Freude und Stolz. Ich bekomme Hunger. Und ich bin völlig überfordert. Eines ist klar: Ich muss davon essen, ich muss diese Freude und diesen Stolz mit meinem Sohn teilen. Eine andere Option gibt es nicht.
![]() |
Mein persönliches No-Go. |
Mein praktischer Umgang mit der Situation...
... ist der Sprung ins Unvermeidliche: Ich gehe dahin, wo die Angst ist. Wieder einmal, jedoch in anderer Form. Und ich halte inne, bereite mich blitzschnell vor auf das Unvermeidliche. Ich habe eine riesengroße Angst vor diesem Essen, vor maßlosem Fressen mit anschließendem Erbrechen (E). Das ist auch ein No-Go. Ich halte inne, atme durch, umarme mein Kind, schnuppere, ich reiche ihm nur noch bis zur Brust. Ich spüre seinen Übermut, diese Sorglosigkeit, fast eine feierliche Würde. Wir setzen uns, wir essen gemeinsam, reden, lachen, überdenken die nächsten Tage. Seine Brüder kommen erst in zwei Stunden, wir haben die Zeit für uns allein. Selten, wunderbar.
Meine innere Qual...
... im schönsten Moment: Ich bin nicht so gelöst, wie ich gerne wäre. Ein Teil von mir errechnet Kalorien und Fettanteil und legt fest, wie viel ich maximal essen darf. Ich weiß, mehr als 3 Stück sind extrem gefährlich, also muss der Stopper rechtzeitig rein. Ich weiß, ich werde nicht satt sein. Also muss ich mein Essen zusätzlich aufwerten mit Rohkost und Quark. Ich weiß, ich muss gesättigt aufstehen, damit ich wirklich aufhören kann zu essen und gar nicht erst zur Schokolade greife. Ich weiß, ich muss genug essen, damit ich später zum Sport gehen kann. Ich weiß das alles ja nicht nur heute, ich weiß es immer. Aber heute schaffe ich es! Ich schaffe es wirklich, wie geplant und ohne E - und kann es kaum glauben. Ich bin froh, ja, ich freue mich sogar. Mein großgewordener, ältester Sohn zieht los. Ich bleibe alleine zurück, widerstehe aller Verführung und mag gar nicht weiter essen. Sicherheitshalber trinke ich einen halben Liter Sprudel, damit mir auch wirklich nichts mehr passieren kann. Hoffentlich halte ich den Tag auf diese Weise bis zum Ende durch. Ich bin fast sicher.