Donnerstag, 3. Mai 2018

Über das Haben-Müssen

Gier, gierig, am Gierigsten.


Ein Beitrag auf den Seiten der Filderklinik klärt meine Gedanken, zementiert mein Verhalten und lässt mich verzweifelt hoffen.

Über das Haben-Müssen.

Schwarz auf weiß.
Schon lange bemerke ich diese Maßlosigkeit an mir. Sie erschüttert mich zutiefst. Ich bin ihr ausgeliefert. Aber: Mein Widerstand wurde über die Jahre stärker, die Maßlosigkeit verlagert sich noch mehr vom Mich-Quälen-Müssen auf das Haben-Müssen. Ist das also besser? Ja, ich denke schon, da ich so zumindest die physischen Schädigungen aufhalten kann. Allerdings: Die Scham bleibt. Und das wiegt schwer. Diese Scham, das Gefühl des Versagens, kann ich schlecht ertragen; ich verbleibe im Kreislauf von Verzweifeln und Zudeckeln und Schämen.

Über die Gier. Immer extrem.

6 plus 1.
In den Regalmetern Literatur, die ich zum Thema Essstörungen verschlungen habe, findet sich selten dieses Wort: Gier. Gier. Gier. Mir tut es förmlich weh in Bauch und Hirn. Gemäß Eintrag im Duden wird Gier wie folgt definiert: "Substantiv, feminin - auf Genuss und Befriedigung, Besitz und Erfüllung von Wünschen gerichtetes, heftiges, maßloses Verlangen; ungezügelte Begierde". Viele Menschen werden das kennen. Aber essen diese Vielen genauso wie ich 6 Riegel Schokolade und 1 Milchschnitte? Mein Verlangen nach Schokolade (oder Chips oder Käse oder Prinzenrolle oder ...) ist allumfassend, scheint niemals zu versiegen. Darum sollte ich mir auf die Schulter klopfen: Hey, ich habe aufgehört zu fressen! Es waren NUR 6 plus 1... Verblieben im Bauch, kein Erbrechen. Hey, ich finde mich trotzdem scheiße, ich werde fett, ich bin immer noch gierig, ich will mehr...
Im Behandlungskonzept der Filderklinik für Jugendliche mit Essstörungen erklärt Dr. K. Ruckgaber: "Somit konnte bei der Anorexie der Perfektionismus und bei der Bulimie die überwältigende Gierkomponente mit anschließendem,  reuevollem Erbrechen identifiziert werden. Bei beiden Krankheitsbildern fehlte es an einer rhythmisch-vermittelnden „Mitte“." Diese kurze Aussage klärt meine Gedanken, weil ich mich darin wieder finde. Dieser Satz sorgt dafür, dass ich mich verstanden fühle: In meinen Extremen, mit meiner fehlenden Mitte. Endlich in Worte gefasst.

Extrem gierig.

Rot-sehen.
Seit ich denken kann, lebe ich in Extremen: fett oder mager, in Sport eine 1 (Schwimmen) oder eine 4 (Tanzen), im Studium eine Niete oder Klausur mit Auszeichnung, 1 Blech Pizza oder keine Pizza, ganz oder gar nicht, supergut oder grottenschlecht, himmelhochjauchzend oder todtraurig, gleichgültig oder hochmotiviert, bin eine gute oder schlechte Mutter, lebe auf Diät oder maßlos fressend, kaufe nichts oder gehe bankrott, hole Hilfe oder lasse mich gehen. Ich könnte endlos weitere Beispiele finden. Diese "überwältigende Gierkomponente", dieses andauernde Übertreiben, sehe ich in jedem meiner Lebensbereiche, wie hinein zementiert. Irgendwie ist mir das schon lange klar, aber darüber zu lesen und nachzudenken lässt mich fast erleichtert aufatmen. Ich bin nicht bescheuert oder unfähig, ich bin immer noch krank. Niemand bewertet - außer mir selbst. Dr. Ruckgaber spricht außerdem von der "Entwöhnung von pathologischen Essgewohnheiten" und formuliert folgendes Ziel: "Man könnte sagen, dass die Jugendlichen durch eine allgemeine Persönlichkeitsnachreifung wieder Appetit auf das Essen und das Leben überhaupt gewinnen sollen."
Nun bin ich wirklich nicht mehr jugendlich, sondern eher mittelalt. Ich habe also ganz schön lange überlebt mit diesem Mist. Meine Nachreifung scheint viel, viel Zeit zu benötigen und immer wieder anzuhalten, stillzustehen, Pause zu machen. Auch darin bin ich wohl extrem, extrem langsam. Dr. Ruckgaber habe ich vor Jahren persönlich kennen gelernt, erst jetzt verstehe ich die Wahrheit in mancher seiner Aussagen. Doch wenn es weiter vorwärts geht, bin ich gerne langsam.

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...