Sonntag, 20. Mai 2018

Über das Zunehmen

Vive le moment.

Die Sache mit dem Gewicht


Bei meiner Essstörung geht es nicht nur ums Gewicht, aber zu einem wesentlichen Teil. Die Zahl auf der Waage manifestiert Sieg oder Versagen. Und dahinter steckt immer: Was werden nur die anderen denken? Bestehe ich ihrem kritischen Blick? 

Das Äußere ist existenziell.

Ich. 2014.
Egal, was mein wunderbarer Therapeut sagt. Seine Worte: "Es geht doch um den Menschen dahinter!" verklingen unverstanden. Beziehungsweise meine Vernunft lässt das Argument ausschließlich für andere gelten. Nicht für mich. So fahre ich mit sehr gemischten Gefühlen zu einem großen Familienfest in Deutschlands Norden. Vielen der Gäste bin ich seit Monaten oder gar Jahren nicht begegnet. Was werden die wohl denken, wenn sie mich so sehen? Ich wiege gute 15+ Kilo mehr als vor ein paar Jahren noch. Die Vorfreude auf das Wiedersehen verblasst deutlich angesichts meiner Angst vor den vermutlich bissigen und gehässigen Gedanken, möglicherweise gar Kommentaren, der Familie. Und diese Angst ist nicht ganz unbegründet, fußt sie doch auf eigener, bitterer Erfahrung. Außerdem habe ich inzwischen mitgelitten und der Dokumentation "Embrace" entnommen, welch' boshaften Anfeindungen die Autorin auf Grund ihres Aussehens ausgesetzt war (ist?). Ganz und gar unglaublich. Hinzu kommen meine eigenen vernichtenden Gedanken über mein Aussehen. Für mich kommt es anders: Das Fest wird ein großer Spaß, ich durchtanze die Nacht - und bekomme Komplimente. Unerwartet schön, dieses Gefühl, ich kann die Aufmerksamkeit des Außen annehmen. Das ist neu für mich. "Vive le moment", sogar in füllig!

Das Außen und sein starker Einfluss.

Ich. 2015.
Überhaupt, wenn ich die Werbung oben sehe, kriege ich die schiere Wut. Den beiden Mädchen möchte ich am liebsten zurufen, sie sollten etwas essen, anstatt nur zu rauchen... Vermutlich sind sie tatsächlich dünn, zusammen mit einer Portion Photoshop dann dürr genug für die Zigaretten-Fotostrecke. Seit 30 Jahren renne ich genau diesen Modelmaßen hinterher. Zeitweise habe ich es sogar geschafft, meinen BMI auf 19 zu drücken. Mir ging es beschissen, als ich 2015 in die Kamera lachte. Im Spiegel sah ich immer noch eine fette Frau*. Allerdings fanden viele Menschen in meinem Umfeld, insbesondere Mütter und mancher Mann, wohlwollende Worte ob meines reduzierten Gewichts und meiner sichtbaren Muskulatur. Einige machten sich Sorgen, muss ich fairerweise zugeben. Die Sorgen wies ich zurück, völlig unnötig, alles wunderbar. Statt dessen erfüllte mich Stolz, bedeutete deren Sorge doch, dass ich sichtbar weniger wog und meine Hosen schlackerten. Also: Motivation zum Weitermachen mit dem Fressen-Kotzen-Nixessen. Damals lebte ich völlig in meinem Abnehm-Irrsinn: Gewichtsreduktion ist ein Sieg. Je weniger ich wog, desto mehr Panik hatte ich vor dem Zunehmen. Gewichtszunahme bedeutet Scheitern und Absturz in einen Strudel aus Depression und Verzweiflung. Gewichtszunahme bedeutet auch Sanktionen: Noch mehr Beschäftigung mit dem Essen, weitere Restriktionen, noch häufigeres Wiegen. Zum Verrücktwerden und nicht mehr lebenswert. Das ist noch gar nicht lange her...

Die Sache mit dem Zunehmen.

Ich. 2018.
Die letzten 4 Jahre habe ich mich intensiv ambulant und stationär Therapien ausgesetzt und mich allmählich einem normaleren Essverhalten angenähert. Wenn das Leben bis dahin nur aus Essanfällen oder totaler Enthaltsamkeit bestand, ist das Essen-Lernen schrecklich schwer. Ich war (und bin) oftmals der Frage nach Portionsgrößen oder dem Hungerhaben / Sattsein hilflos ausgeliefert. Hilflosigkeit führt dann wieder zu Fressdrang, zur Gier nach Mehr-Mehr-Mehr, zum nächsten Fressanfall und möglicherweise zum selbstinduzierten Erbrechen. Letzteres kann ich inzwischen oftmals unterbinden, nicht jedoch den Fressanfall zuvor. Mit dem Essen kommt das Gewicht, logisch: Auf der digitalen Waage in 10g-Schritten, lauter Stiche ins Innerste, deren Schmerz ewig nachhallt. Ich habe geglaubt, das Gewicht würde einfach stehen bleiben bei einem gerade noch akzeptablen Zielgewicht: Zuerst bei 53, dann bei 55 kg, bei 58 oder spätestens bei 60 kg, bei 65 kg, bei 6x... An jeder dieser Schallmauern bin ich zerbrochen und mein Gewicht ging beständig weiter hoch. Nur in meinen Schwangerschaften war ich so schwer! Und dann dieses Foto, aufgenommen vor einigen Wochen auf einer Diestreise. Ich sehe es in meiner Mailbox und falle fast tot um: Diese Oberarme, diese Beine und - so grausam - dieser Bauch. Bin ich wirklich so unvorteilhaft gekleidet aus dem Haus gegangen? Ich schäme mich zutiefst: Was mögen wohl die anderen gedacht haben? Was denken die wohl, wieviel ich den ganzen Tag an Essen in mich hinein stopfe? 

Mein kleines, sehr persönliches Fazit. 

Die Sache mit dem Gewicht. Die Sache mit dem Zunehmen. Ein Hinweis auf dieses schwierige Thema hätte mir in Taryn Brumfitts Dokumentarfilm "Embrace" gut gefallen. Schließlich hat die Autorin selbst ihren Körper verändert; indem sie wieder anfing, genussvoll zu essen, nahm sie zu. Wie geht sie damit um? Für mich persönlich ist die Beschäftigung mit dem Themenkomplex Essen-Genießen-Gewichthalten noch nicht abgeschlossen. Hier lauert Arbeit, es sind meine Angst-Themen, schließlich liegen dahinter die Baustellen meiner Psyche. Ich merke aber, dass - trotz derlei Schockfotos wie oben - eine gewisse Zuversicht in mir keimt. Seit ungefähr 1 Jahr halte ich mein Gewicht mit (durchaus manchmal extremen) Schwankungen. Fast ohne Erbrechen und auf jeden Fall ohne Diät. Was meinen Therapeuten zu der Aussage veranlasst: "Vielleicht ist das ja Ihr Gewicht. Vielleicht haben Sie es endlich gefunden." Ich will das nicht hören, schon gar nicht akzeptieren. Schließlich wiege ich für meine Verhältnisse unfassbar viel. Aber vielleicht hat er ja Recht: Vielleicht findet mein Körper sein Gewicht, wenn ich ihn gesund werden lasse. Vielleicht finde ich dann in meinem Körper ein Zuhause.

*Weiteres zu meiner schweren Körperschemastörung lagere ich in einen späteren Post aus, das wäre an dieser Stelle zu viel geworden. Mir jedenfalls.

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...