Sonntag, 30. September 2018

Verflixte Intuition

Die Sache mit dem Essen-Lernen.



Aberklardoch!
Das Thema Essen und ich, wir kennen uns schon sehr lange. Aber wir pflegen keine Harmonie-Beziehung, sondern eine Hass-Liebe, die richtig tief geht und weh tut und unlösbar scheint. Im post "Größte Verunsicherung - als ich anfing, essen zu lernen..." schreibe ich über Selbstverständliches: Appetit, Hunger, Sättigung zum Beispiel. Jetzt wage ich einen Rückblick von diesen Anfängen hin zum Heute, zu meinem Neustart. Immer geht es um's Essen, die Gedanken sind nie frei.

Intuition, häh?

Empathie, klar, kenne ich. Freude und Schmerz miteinander teilen, das verstehe ich. Das schaffe ich, sogar sehr intensiv. Aber intuitives Essen habe ich ja nie gelernt. Schon als Mädchen bin ich abgedriftet in wahnsinnig sinnlose, tief verinnerlichte Regeln und Gesetzte im Hinblick auf meine persönliche Nahrungsaufnahme. Ich hatte immer Lust auf Essen, selbstredend auf das falsche, fettig-süße Essen. Ich trieb viel Sport, bewegte mich unentwegt, aus reiner Freude und aus mir heraus - auch intuitiv also. Aber die Sache mit dem Essen machte ich in den Augen meiner Mutter verkehrt und in ihren Augen glich die Bewegung keineswegs die Naschereien aus. Ich hörte oft ein "Du ärgerst Dich doch nur.", wenn ich eine 2. Portion Nudeln nahm. Sie wollte mich damit tatsächlich schützen. Von meiner Mutter lernte ich, stets Diät zu halten und fürchterlich unglücklich mit meinem Aussehen zu sein. Ich teilte schon früh ein in verbotene und erlaubte Nahrungsmittel, hielt mich an Uhrzeiten und feste Rhythmen und schämte mich sehr, wenn ich gegen meine eigenen Gesetze verstieß. So bin ich aufgewachsen mit einem ständigen Vielzuviel im Gefühl und ohne Gespür für Hunger, Sättigung oder Portionen. Und ohne jede Freude am Essen. Da komme ich also her.

Tiefer, immer tiefer in die Essstörungen.

In der Pubertät wurde ich nicht größer, sondern breiter. Ich wuchs erst spät. Eine schreckliche Zeit, lieber wollte ich ein Junge sein mit meinen Fußballer-Waden und dem Schwimmer-Kreuz. Aber ich war nun einmal auch ein Mädchen, eins unter vielen Ballerinas und Turnerinnen in meiner Klasse. Mit 13 Jahren machte ich meine erste Diät, es war die "Brot-Diät" aus der Frauenzeitschrift "Journal für die Frau". Tatsächlich nahm ich sichtbar ab, Freude auf allen Seiten. Der klassische Beginn einer Essstörung: Ich reduzierte Portionen, machte weiter viel Sport, wurde dünner; ich vergrößerte irgendwann die Portionen, erbrach das Essen. Mein Gewicht stabilisierte sich.

Mein Körper kannte nun folgende Zustände: Tagelang reduzierte oder gar keine Nahrungsaufnahme (aber Sport), dann plötzlich die Zufuhr von Unmengen Essen in kürzester Zeit, gefolgt von quälendem, stundenlangem Erbrechen (plus Sport). Mein Bauch war eingefallen und leer - oder aufgebläht und riesengroß. Dazwischen gab es nur ein großes Nichts. Ich trickste mit allen Mitteln, redete mir ein und aus, rechtfertigte, argumentierte nach Innen und nach Außen; mein seltsames Essverhalten blieb schließlich nicht unentdeckt. Früher habe ich diesbezüglich viel gelogen. Und meinen Eltern bis heute nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber meiner Schwester, was für eine Befreiung.


Achterbahn.
In den Jahren zwischen 14 und 18 verschlangen mich meine Essstörungen vollständig. Vom Leben bekam ich nicht mehr viel mit. 13 Monate im essverrückten Amerika und das anschließende Studium verbesserten meine Situation nicht. Stattdessen wurde ich so verzweifelt, dass ich begann, über meine Störungen  zu lesen und mich nach Hilfe umzuschauen. Die richtigen Stellen oder Menschen blieben mir verwehrt, jedenfalls musste ich erst 40 werden, um den Ausstieg aus der Sucht wirklich zu beginnen. Bis dahin versuchte ich meinen Kindern Vorbild zu sein, ihnen irgendwie ein gesundes Essverhalten zu vermitteln, welches ich aus der Theorie natürlich kannte, und einfach nur zu überleben: Als gute Mutter, Ehefrau und auch als Arbeitnehmerin. Und immer ohne jede Freude am Essen, aber mit häufigem Erbrechen. So ging es also weiter. 


Dann wurde ich 40...

… und körperlich sehr krank. Ich habe u.a. in den posts "Zusammenbruch" oder "Fehltritt oder Rückfall - körperliche Schäden" darüber geschrieben. Mein Weg war schwer und ist es noch. Ich ging erstmals in die Klinik und begann, unter akribischer Anleitung und Dokumentation, das Essen und das Drumherum zu lernen. Das sah so aus:

  1. Kein Erbrechen während der Klinikzeit. Keine eigenen, selbst gekauften Lebensmittel. Kein Alkohol. Bei Nichterfüllen erfolgt auf eigene Initiative die Beichte bei der Pflegekraft.
  2. Die Mahlzeiten werden eingehalten, eine Entschuldigung gibt es nicht.
  3. Verbotene Lebensmittel gibt es nicht, alles wird gegessen.
  4. Die Mahlzeiten werden betreut von einer Pflegekraft in der Essgruppe eingenommen. Der leere Teller wird nach Abschluss der Mahlzeit der Pflegekraft vorgezeigt.
  5. Ein Essprotokoll wird zu jeder Mahlzeit oder Zwischenmahlzeit geführt, auch während der Wochenenden zuhause.
  6. Das Essprotokoll wird jeden Abend mit der Pflegekraft besprochen. Nach 1 Woche erfolgt die zusammenfassende Besprechung mit der Pflegekraft und ggf. mit dem Arzt.
  7. Dienstags und freitags ist Wiegetag, d.h. die Pflegekraft notiert das aktuelle Gewicht in Unterwäsche. Dieses hat ggf. Einfluss auf die Lebensmittelmenge bei den Mahlzeiten.
  8. Später wöchentliche Spiegelkonfrontation mit einer Therapeutin, d.h. Selbstanalyse in Unterwäsche vor einem Ganzkörperspiegel.
  9. Selbstverständlich weitere unterstützende Therapien und Therapieformen.
Ein Essprotokoll enthält mehrere Spalten, u.a. eine Spalte für "Hunger in %" - ich trug zunächst immer "+100.000 %" oder "-100.000 %" ein. Für mich war es schlicht unmöglich, diesbezüglich eine Aussage zu treffen: Woher sollte ich denn wissen, wie sich Hunger anfühlt? Die Gefühle und Gedanken einzutragen, war genauso schwierig: Den Zugang zu meinem Innen hatte ich verloren, jenseits der Verzweiflung kannte ich keine Gefühle. Das war extrem anschaulich und sehr schockierend.

12 Wochen lebte ich unter diesem Kontrollschirm, die ersten 2 Wochen ganz ohne Kontakt zu meiner Familie. Es fiel mir anfangs schwer, den Teller leer zu essen, oder Brot mit (!!!) Butter und (!!!) Käse oder 1 ganzes Brötchen und dann noch 1 Joghurt. Es war beinahe unerträglich, den vollen Magen auszuhalten. Es war zum Sterben, als die Waage nach oben kletterte. Es war ein Aufatmen, wenn der Zeiger wieder fiel. Tiefste Depressionen, Selbstzweifel und auch große Angst, die Klinik nicht durchzuhalten, begleiteten mich. 

Ich verließ die Klinik dann in guter körperlicher Verfassung und übte mich im täglichen (Familien-)Leben. Dazu gehörte die übergangslose psychotherapeutische und ernährungstherapeutische Begleitung. Das Ziel war klar: Weiter essen im Rahmen der sogenannten Mahlzeitenstruktur - ohne Erbrechen, ohne Fasten. Ausgestattet mit Rüstzeug war ich nun, doch der Alltag war mein altes, unverändertes Leben. Ich kämpfte um das Gelernte, protokollierte und fotografierte meine Portionen, probierte aus, wurde rückfällig, begann von vorn. Insgesamt verlebte ich 4 stationäre Aufenthalte dort, in Summe 26 Wochen; die Aufenthaltsdauer wurde jeweils kürzer, zuletzt waren es nur noch 4 Wochen. Ja, "nur", denn die Rückkehr ins echte Leben fiel mir immer sehr, sehr schwer. Stets wollte ich im kontrolliert-geschützten Rahmen bleiben...


Praxisfeld: Alltag.

Feindesland.
In den folgenden Jahren führte ich eine für mich taugliche Mahlzeitenstruktur ein, hielt mich weitgehend an meine Standards: Ich aß in festen Abständen und zu festen Zeiten, bereitete Zwischenmahlzeiten für's Büro vor, erstellte Wochenpläne für's Mittagessen mit den Kindern. Daran hielt ich mich, obgleich meine Familie mich kaum dabei unterstützte: Es gab/gibt kiloweise Schokolade und Kekse, Käse und Fleischwurst. Vermutlich habe ich nie deutlich gemacht, wie fürchterlich diese Fülle an verbotenen Lebensmitteln für mich war und ist.

Die Qual lohnte sich: Ich lebte eineinhalb Jahre ohne Erbrechen bis zum Rückfall, das war die längste Zeit meines Lebens! Langsam konnte ich Appetit und Hunger voneinander unterscheiden, ebenso körperlichen und seelischen Hunger. Mit diesem Erfolg im Rucksack tappte ich in die nächste Falle: Hunger. Was tun, wenn der Hunger kommt? Außer der Reihe, außerhalb vom Essensplan? Das war eine Katastrophe, der ich hilflos ausgeliefert war. Rumoren im Bauch, Magenknurren, vielleicht Unterzucker - fast völlig unbekannte Symptome waren das. Panisch füllte ich mich mit heißem Tee und Kaffee ab, weil Essen ja nur zu den festen Zeiten vorgesehen war. Bloß keine Schokolade, denn dann kann ich nicht aufhören; ich übte das Durchhalten und war - schwuppdiwupp - wieder auf Diät. Mein Körper wollte mehr, zu anderen Zeiten, auch anderes als nur den Standard. Scheiße, was nun? 

Die Lösung lautet: Ich lasse es laufen. Ich will so sehr ein normales Leben leben, wie die Menschen um mich herum. Ich esse, worauf ich Lust habe. Ich portioniere nach Appetit, leider nicht nach Hunger (wichtiger Unterschied!). Ich kann inzwischen auch aufhören zu essen, wenn ich satt bin. Aber ich esse zwischendurch, wenn etwas herum liegt. Meine Portionen waren und sind groß. Ich esse auch dann, wenn ich keinen Hunger habe, weil die Uhrzeit meiner Mahlzeitenstruktur entspricht. Ich nahm zu. Und ich nehme weiter zu. Ich kaufte größere Kleidung, und noch größere Kleidung. Ich hoffte auf meinen persönlichen Setpoint, an dem mein Gewicht doch endlich einmal stehen bleiben müsste. Meine Therapien nahm und nehme ich parallel immer wahr und meine wunderbaren Therapeuten schafften es, mich aufzufangen und trotz der Rückschläge weiter zu motivieren. Danke dafür, von Herzen danke!


Und jetzt wieder ein Start: Essen nach Bedarf.

Protokollieren-Analysieren.
Mit meiner Ernährungsberaterin habe ich ein neues, angepasstes Ernährungsprotokoll erarbeitet. Ab sofort geht es darum, nicht mehr ausschließlich zu fest definierten Zeiten zu essen. Im Gegenteil, ich soll lernen, nur noch zu essen, wenn ich körperlich Hunger habe. Und nur so viel, bis ich satt bin - satt, nicht voll (auch ein wichtiger Unterschied!). Und nur das, was ich auch wirklich mag. Es geht also, wieder einmal, um das rechtzeitige Innehalten vor dem Essen, um die kurze Situationsanalyse davor und danach, ums Protokollieren und Dokumentieren. Da komme ich wohl nicht drum herum. Ich will auf diesem Weg herausfinden, was mich so triggert, dass ich dem Fressen verfalle. Oder in welchen Situationen ich verzichten kann. Dann habe ich eine Chance, diese Situationen zu reproduzieren - oder eben nicht. Das zehrt an meinen Kräften und erfordert enorme Ausdauer sowie eine gewisse Fehlertoleranz, weil Niederlagen erfolgen werden. 

Mein großes Ziel ist: Mein Gewicht soll zu mir passen. Es soll stehen bleiben, gerne dort, wo ich bin, aber bitte, bitte stagnierend. Geht es weiter hoch, halte ich es kaum aus und vermute, dass der Schritt zurück in eine Essstörung der nächstliegende wäre. Das wiederum ist meine größte Angst. Darum gehe ich hin zur Beratung, darum mache ich mich wieder und weiterhin nackig vor dem therapeutischen Außen. 

Heute Abend war ich unterwegs, habe auswärts gut gegessen und getrunken. Werde ich also morgen früh hungrig sein? Hm, vielleicht ja, vielleicht nein. Wenn ja, dann esse ich eine Kleinigkeit. Wenn nein, dann will ich nur einen Kaffee trinken und mir ein Brot, Obst und Joghurt mit zur Arbeit nehmen. Soweit die Vorbereitung. Die Umsetzung schaue ich mir dann morgen an. Und dann am nächsten Tag und am übernächsten. Die Protokolle liegen
vor, ich nehme sie mit zur Therapiestunde. Vielleicht kann ich noch ein paar Knoten meines verkorksten Essverhaltens lösen.
Lebensfreude.

Merke: Vom Nixessen und Überessen-Fressen zum Essen nach Plan zum Essen bei Bedarf. Vielleicht sogar hin zum Essen mit Freude und Genuss? 

Ein schwieriger, weiter Weg, so ganz ohne Intuition...

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...