Samstag, 20. Januar 2018

Fehltritt oder Rückfall: Körperliche Schäden

Meine Gesundheit setze ich aufs Spiel.

Erschreckendes Finale.

Eineinhalb Jahre habe ich geschafft, ohne zu erbrechen. Jetzt bin ich wieder drin. Die Auswirkungen des Erbrechens spüre ich schlimmer denn je, ich bin älter geworden und, ja, auch aus der Übung. Versuch einer Darstellung der massiven körperlichen Beschwerden, die insbesondere meine Bulimie verursacht. Manche Schäden werden bleiben. Überhaupt nicht angenehm zu lesen. Wieder gilt: Auf eigene Gefahr. Kein Spiel, sondern bitterer Ernst.

Exkurs: Ablauf eines Fressanfalls mit anschließendem Erbrechen.


Früher habe ich für meine Anfälle eingekauft, diese geplant und 7 bis 10 mal täglich in großer Eile riesige Massen verbotener Lebensmittel verschlungen. Im Wechsel mit einer entsprechenden Flüssigkeitsmenge konnte ich sicher sein, dass das Erbrechen (E) von Keksen, Kuchen, Eis, Weißbrot mit Butter und Nutella oder Käse und Wurst, Chips, Pommes, Nudeln mit Bolognese-Sauce, Pudding, Schokolade und Pralinen funktioniert. Auf einen Anfall folgte der nächste, sobald der Bauch wieder leer und die Erschöpfung abgeklungen war.

Heute passiert das Erbrechen mit mir.
Der Gedanke an diese Lösungsmöglichkeit überkommt mich, wenn plötzlich zu viel falsches Essen im Bauch ist oder sich unerwartet eine Gelegenheit, verbotene Lebensmittel zu essen, ergibt. Ich bin nicht mehr darauf vorbereitet und empfinde jedes E als fürchterliche Niederlage. Und ich habe wieder Angst vor der Spirale aus Fressen und Erbrechen. 

Zahnkontakt.
Das Erbrechen ist mir nie leicht gefallen. Für das Entleeren eines vollen Magens brauchte ich eine halbe Stunde oder länger mit mehrfachem Nachtrinken, für einen erbrochenen Schwall benötigte ich ca. 3 Versuche und häufiges Würgen - das Entleeren einer Magenfüllung erforderte mindestens 15 bis 20 mal einen Schwall Erbrochenes. Vom ständigen Erbrechen, währenddessen ich mir immer und immer wieder 2 Finger der rechten Hand in den Hals ramme, den Kehlkopf bedränge und den Würgereflex auslöse, hatte ich früher eine dauerhaft entzündete, eiternde Wunde auf dem rechten Handrücken - verursacht vom Eckzahn oben rechts. Vom Schlagen und Drücken auf den Bauch, wenn das Erbrechen nicht funktionierte oder sich der Hals auf irgendeine Weise verschloss, bekam ich blaue Flecken und Krämpfe. Den Schmerz, die Verzweiflung und Scham werde ich wohl nie vergessen können.

Missbrauch an meinem Körper: Sichtbare Zeichen.

Alptraum.

Zähne, Kiefer: Meine Zähne haben sehr gelitten. Bisher konnte ich vor meinem Zahnarzt die Bulimie verbergen, jetzt folgt eine Behandlung auf die nächste. Der Zahnschmelz ist angegriffen und meine Zähne lösen sich auf. Mein Kiefer mahlt ständig, die Kauflächen sind abgeschabt. Beim Erbrechen reiße ich den Kiefer anhaltend auseinander, extreme Verspannungen sind die Folge. Der Schaden ist insgesamt immens, die Behandlung schmerzhaft und teuer. Ich schäme mich sehr.

Haarausfall: In meinen aktiven Zeiten verlor ich unentwegt Haare. Meine dicken, dunkelbrauen Haare waren immer mit das Einzige, was ich an mir mochte. In jeder Hinsicht dünner werdend, konnte ich oft nicht einmal mehr meinen Kopf im Spiegel anschauen. Zum Glück stoppte der Haarausfall, als ich anfing regelmäßiger zu essen, und aufhörte ständig zu erbrechen. Jetzt werden meine Haare grau, aber ich finde sie wieder schön.

Maske. Kaputt.
Eingerissene Lippen, angegriffene Mundschleimhaut: Mein Rachenraum war oft entzündet, die Lippen ständig eingerissen und der Lippenpflegestift mein Begleiter. Verletzungen, die schnell heilen. Verletzungen, die sichtbar und kaum zu überdecken sind.

Aufgequollene Augen, Augendruck: Besonders beängstigend finde ich, dass meine Augen nach dem quälenden Würgen, kopfüber über der Kloschüssel, klein, verquollen, zugeschwollen sind, dazu der getrübte Blick, keine klare Sicht mehr.

Druck auf den Ohren, Lymphknotenschwellung hinter den Ohren: Auch diese Symptome sind extrem unangenehm, da die Ohren schmerzen und die Schwellung deutlich hervortritt.
 
Geschwollenes Gesicht, Lymphknotenschwellung am Hals: Mein gesamtes Gesicht schwillt an, am Hals sind die vergrößerten Lymphknoten zu sehen. Meistens laufen mir beim Erbrechen die Tränen. Mein Gesicht verändert seine Form. Das bin nicht mehr Ich.

Der Druck auf den Augen, an Ohren und Hals tut weh und geht nur langsam zurück. Es bleibt eine bleierne Müdigkeit, eine totale Erschöpfung.

Missbrauch an meinem Körper: Im Verborgenen.


Kopfschmerzen, Schwindel: Mein Kopf dröhnt nach dem Erbrechen, häufig kommt Schwindel hinzu. Ich kann mich kaum aufrichten und muss mich nach dem Waschen und Zähneputzen hinlegen.

Herz-Rhythmus-Störungen: Diese kann ich nicht konkret mit einzelnen Situationen in Verbindung bringen, sie treten unregelmäßig auf. Man vermutet, dass das häufige Erbrechen zu Mangelerscheinungen, u.a. zu Kaliummangel führt. Dieser wiederum begünstigt Herz-Rhythmus-Störungen. Ich habe nie Kalium-Tabletten genommen, weil ich nicht medikamentös ausgleichen wollte, was ich selbst verursacht habe. Lieber wollte ich einfach tot umfallen.

Ein großer Schmerz.
Kehlkopf, Speiseröhre: Mein Kehlkopf schmerzt langanhaltend nach dem Erbrechen. Das geht vorüber, aber eine entzündete Speiseröhre möchte ich nicht noch einmal haben. Das war eine extrem bittere Lektion.

Schließmuskel der Speiseröhre, Reflux: Eine angeordnete Magenspiegelung hat ergeben, dass mein Magen nicht mehr richtig schließt und entsprechend Reflux festgestellt. Dies hat mich bisher nicht belastet, bedeutete jedoch für einen operativen Eingriff im September: Eine Vollnarkose war u.a. deshalb nicht möglich, weil die Gefahr besteht, dass Mageninhalt durch die Refluxerkrankung in den Tubus und somit in die Lunge gelangt. Indirekt also doch eine Auswirkung. Außerdem muss ich nun regelmäßig zur Magenspiegelung, damit Vorstufen von Speiseröhrenkrebs frühzeitig erkannt werden können; hier gehöre ich zur Risikogruppe.

Menstruationsstörungen: Mein Körpergewicht schwankte immer stark, meine Periode blieb oft aus oder kam unregelmäßig. Heute frage ich mich, wie ich überhaupt 4 mal schwanger werden konnte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mein Körper trotzdem diese Kraft hatte. Während der Schwangerschaften konnte ich diszipliniert und ausgewogen essen, ohne zu erbrechen. Meine besten Zeiten waren das.

Bauchschmerzen, Krämpfe: Magenschmerzen, Krämpfe, Verstopfung begleiten mich schon sehr, sehr lange. Fenchel-Anis-Kümmel-Tee und Flohsamen sind nach wie vor meine Standard-Allheilmittel. Als ich anfing zu essen, musste ich sehr auf die Mengen achten, die im Magen verbleiben sollten: Kleine Portionen, langsam gegessen und lauwarm, nicht kalt, häufigere Mahlzeiten. Hielt ich mich nicht daran, passierte das Erbrechen plötzlich und nicht selbst-induziert. Die Krämpfe sind inzwischen deutlich zurück gegangen.
 
Leben ohne Schlaf: Nachts trieben mich Ängste um meine Gesundheit um, ich spürte meinen Körper oft nicht mehr, nur noch die totale Erschöpfung. Hinzu kamen die Sorgen um die Kinder, der Job, die Beziehung. Irgendwann war an Schlaf nicht mehr zu denken. Ein Leben ohne Schlaf ist kaum auszuhalten. 

Depressionen, Angststörung, Zwangsstörung: Das sind begleitende Erkrankungen, die ich über all' die anorektisch-bulimischen Jahre aufgebaut habe. Zum Glück habe ich gelernt, damit umzugehen; ich fahre wieder Auto und U-Bahn und wage mich in Umkleidekabinen. Rückblickend bin ich dankbar für diese Symptome, denn wegen der Depressionen und wegen meiner Ängste habe ich mir schließlich ärztliche und therapeutische Hilfe gesucht. Die Bulimie hätte ich sonst niemals offenbart.

Keine Zulassung zur Blutspende: So gerne wollte ich endlich Blut spenden. Doch leider fiel ich beim ärztlichen Vorgespräch durch, als ich ehrlich meine Erkrankung benannte. Das Risiko für mich sei zu hoch. Gleiches gilt für eine Stammzellenspende, wie ich aus aktuellem Anlass durch eine Anfrage bei der DKMS in Erfahrung bringen konnte. In einigen Jahren will ich es erneut versuchen.

Missbrauch am Körper: Nicht nachmachen!


Mein Körper musste schon eine Menge aushalten. Es fällt mir schwer, diese Analyse zu notieren. Was habe ich meinem Körper, mir also, alles zugemutet? Wie kann ich es wagen, dieses Geschenk, meine Gesundheit, zu zerstören? Ich habe ja nur diesen Körper und ich brauche ihn noch eine Weile.

Zum Nachlesen: Eine in meinen Augen überraschend gute, kurze Zusammenfassung bietet ein Artikel der Apotheken-Umschau mit dem Titel "Bulimie: Symptome und Folgen".

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Letzte Aktualisierung: Freitag, 16.02.2018

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