Grenzüberschreitung!
Mit meinem jüngsten Sohn und seinem Freund, beide fast 11 Jahre alt und ca. 140 cm groß, unterwegs in der Stadt. Folgendes ist passiert:
Einmischung. Wertung.
Wir befinden uns in einer Buchhandlung. Die Jungs stöbern bei den Comics und ich bei den reduzierten Mängelexemplaren. Das mache ich gerne, finde ich doch immer irgendein Schnäppchen. Ich halte ein Buch mit dem Titel "Abnehmen, ganz ohne Sport" in den Händen und blättere lose von einer zur nächsten Seite.Erklingt von der Seite eine Stimme: "Ich kann Ihnen sagen, wie Sie ganz einfach ohne Sport abnehmen werden." Ich scanne mein Gegenüber: Älterer Herr, hager, über 70, schätze ich, im Sessel am Fenster sitzend. Ich, stehend, schaue auf ihn herab - doch das wird mir erst später klar. Zunächst fühle ich mich nämlich wie eine ertappte Schülerin und sehr, sehr klein. Ich sage nichts.
Meine Privat-Bibliothek. |
Die Jungs kommen dazu, stolz einen Asterix-Band präsentierend. Beide sind stumm, die seltsame Situation strahlt auf sie ab. Ich spüre, wie der Herr sie mit seinen Blicken taxiert. Dann sagt er, beinahe genüsslich, indem er auf meinen Sohn zeigt: "Der da, der hat auch zuviel, der hat ja schon Bauch. --- Und der da auch!" Die Jungs sagen nichts, ich reagiere freundlich überrascht, leicht ablehnend, verabschiede mich, wir gehen Richtung Kasse. Und ich denke: "Was für eine Unverschämtheit!"
Besprechung.
In der Kassenschlange platzt mein Sohn heraus: "Was hat DER denn? Warum sagt der das?". Ich erkläre den Jungs die Situation mit dem reduzierten Diät-Ratgeber. Malte fragt: "Weißt Du, was der wiegt?" Ja, tatsächlich, denn das habe ich ja ungewollt erfahren. Ich gebe mein Wissen weiter. Malte: "Das ist nicht viel für einen erwachsenen Mann." Ich stimme ihm zu, der Herr sah groß aus. Zum Glück ist die Kassenschlange lang, denn wir haben einiges zu besprechen. Von großer Bedeutung ist, dass der Freund meines Sohnes stets mit Untergewicht kämpft. Nicht auszudenken, würde er noch weniger wiegen. Allein diese Tatsache macht deutlich, wie lächerlich die Situation eigentlich ist. Doch ich bin natürlich wahnsinnig empfindlich bei diesem Thema. Interessant ist außerdem, dass wir eine ähnliche Situation schon einmal erlebt haben, bei der Schneiderin.Mir ist wichtig, dass die Jungs verstehen: Der Mann hat sich ein Urteil gebildet, uns bewertet, ohne uns zu kennen. Und er hat uns seine Meinung in einem Monolog ungefragt aufgedrängt. Ich erkläre den Jungs, dass es natürlich unterschiedliche Ansichten geben kann. Dennoch ist es eine klare Grenzüberschreitung, die eigene Meinung so unverschämt-ungefragt-verletzend kundzutun. Ich wünsche mir, dass sie das verstehen und selbst lernen, ihre Worte abzuwägen, sensible Themen zu erkennen und ihre Aussagen gut zu überlegen. Und dass sie einander beistehen und das auch zeigen. Ich bestärke die Jungs darin, dass sie genau richtig sind, alle beide, so verschieden sie sind: Der eine blond, der andere dunkel, der eine sportlich-kräftig, der andere zart-elegant, beide einfach ganz wunderbar, beide clever und beide zugewandt im Umgang mit anderen. Das ist wichtig, das ist gut so. Und nichts an ihnen ist falsch.
Noch mehr Dreistigkeit.
Es geht noch härter: Meine Schwester wurde im Zug von einem Fahrgast angesprochen: "Entschuldigung, darf ich Sie fragen, was Sie wiegen?" Als sie ihr Haus verkauft hatte und der Umzug kurz bevor stand, sagte ihr eine Bekannte zum Abschied, was man aus der Immobilie alles hätte machen können.Ich vermute, jeder von uns erlebt solche Situationen - oder war schon einmal beteiligt, hat vielleicht dazu beigetragen. Hoffentlich aus reiner Gedankenlosigkeit und ohne den Vorsatz, zu verletzen. Ich gehöre auch dazu: Schließlich analysiere ich sofort Figur, Bauch, Muskulatur meines Gegenübers - unausgesprochen. Ich werte auch, jedoch schneide ich im Vergleich zumeist schlechter ab als der oder die andere. Trotzdem empfinde ich es oft als niederträchtig, wie ich denke und bewerte.
Die Frage ist doch: Was maße ich mir eigentlich an, über andere zu urteilen? Ich weiß nichts über ihr Leben, ihre Geschichte, die Hintergründe. Aber ich mische mich ein, stelle mich irgendwie über den anderen - wenn auch 'nur' mental. Oder rechtfertige ich mein eigenes Tun, indem ich das des anderen abwerte? Manchmal suche und treffe ich wunde Punkte. Ja, tatsächlich, das empfinde ich als anmaßend, als Unverschämtheit. Und ich werde auch getroffen, siehe Beispiel oben. Das sind nach meinem Empfinden Grenzüberschreitungen.
Was tun?
Wie reagiere ich also? Mir fällt meist erst Tage später erst ein, was ich hätte sagen/tun/lassen können. Meine Schwester ist schlagfertiger, sie antwortete ihrem Abteilpartner: "Das fragt man eine Dame nicht!!" Ich musste mir auf die Zunge beißen, um dem Herrn im Buchladen nicht pampig ins Wort zu fallen. Also bin ich sprachlos geblieben. Mir gefällt diese Reaktion nicht so gut. Lieber hätte ich ihm freundlich, aber direkt Einhalt geboten. Nun kam es anders, ich lerne wieder daraus.
Am selben Abend lausche ich im Hospitalhof im Rahmen des Nachtschicht-Gottesdienstes einem interessanten Interview von Landesbischof Frank Otfried July und Anja Wicker, Teilnehmerin bei den Paralympics. July sagt sinngemäß, wir sollten unvoreingenommen Begegnungen schaffen, offen sein. Und wir sollten versuchen, von Zeit zu Zeit den Blick der anderen einzunehmen. Das finde ich schön: Den Blick der anderen einnehmen. Nicht, um ihnen meine Meinung aufzudrücken. Sondern um sie besser zu verstehen, um empathisch zu bleiben, um das Unvoreingenommensein zu üben.
Ich bin sicher, die Begegnungen im Buchladen, bei der Schneiderin, im Zug oder im Haus wären anders verlaufen - und ohne Grenzüberschreitung ausgekommen. Die Spontaneität meiner Schwester nehme ich mir zum Vorbild, die Worte von July will ich mir merken und immer mal wieder in Erinnerung rufen. Manchmal passen die Momente einfach wunderbar zusammen - ich bin versöhnt mit dem Tag nach Hause gegangen.