Samstag, 4. August 2018

Mein roter Faden

Status Quo: Schrei nach einer Konklusion!


Mein letzter Beitrag ruft - von mir erneut gelesen - nach einer Ergänzung. Entstanden heute morgen um 8 beim Joggen.

Status Quo: Re-read.

Manchmal stolpere ich über meine eigenen Worte und über den Inhalt meiner Texte. Manches wiederholt sich; vieles beschämt mich; oftmals spüre ich Selbstmitleid, was ich mit mir und meinem Ich so gar nicht vereinbaren kann und will. Eigentlich möchte ich Lösungen finden, nach vorne schauen, umsetzen, erschaffen, zufrieden stellen... Die Nächte sind derzeit unglaublich heiß, ich wache früh auf. Vor dem heutigen Morgenlauf blieb also Zeit für einen re-read meines letzten posts. Und während des Laufs erörtere ich in aller Ruhe und Monotonie die inhaltlichen Aspekte. Wieder klingt etwas nach und arbeitet in mir - und schreit nach einer Egänzung.

Symptom(e) versus Ursache(n)?

Dass wir uns nicht missverstehen: Es ist wichtig, die Symptome anzuschauen und auch zu reduzieren oder gar zu beheben. Sie schränken ein, schädigen zum Teil massiv und erschöpfen Körper und Geist. Sie sind kraftzehrend zu verheimlichen und extrem unangenehm, offen zu legen. Tritt ein Suchtverhalten auf, muss dieses zuerst angeschaut werden, sagte vor vielen Therapiesitzungen mein wunderbarer Therapeut. Aber Symptome sind "nur" Ventile für tiefer liegende Bedrängnis und Herzensnot. Kann durch das Erlernen und Verinnerlichen von Verhaltensweisen das Suchtverhalten abgebaut werden, reduzieren sich infolgedessen die Symptome, erst dann ergibt sich Raum für die Erforschung und Betrachtung der Ursachen. Unwissenschaftlich gesprochen, bloß basierend auf eigener Erfahrung. Meine Erkenntnis von heute, gnadenlos ehrlich:

In der Retrospektive entblößt sich der rote Faden.

Einige Tage noch, dann habe ich Geburtstag. Vielleicht schaue ich deshalb auch so intensiv zurück. Jedenfalls erkenne ich ausgerechnet während der Stunde auf dem Feld, einen leichten Schritt vor den andern setzend, blitzeklar, wie ich mein Leben bisher gelebt habe - und was das für mich im Heute bedeutet. Der rote Faden ist nichts anderes als meine Beständigkeit bei der Erfüllung der Ansprüche des Außen, wie ich sie zu begreifen glaubte. Im Einzelnen und starkt vereinfacht.

  • Zuhause versuchte ich zu genügen und unsichtbar zu sein: Meine schulischen Leistungen am Gymnasium waren mäßig. Oft war ich allein auf dem Schulhof, versteckte mich auf dem Klo oder in der Bibliothek.  Meine Mathe-5er sorgten für genug Diskussionen und Aufmerksamkeit und Verzweiflung meiner Mutter. Mit 13 Jahren bin ich krank geworden - und schaffte später das Abitur mit 2,1er Schnitt. Man war stolz und glücklich.
  • Meine Gastfamilie mochte mich sehr, wir haben heute noch Kontakt: Erwachsen wurde ich erst nach der Schule, während eines längeren Auslandsaufenthaltes in den USA.  Endlich konnte ich sogar Englisch. Die Bulimie lebte ich intensiver, vermutlich half sie mir durch die enormen Unsicherheiten während dieser Zeit.
  • Auf mich konnte man sich immer schon verlassen: Meine Studienrichtung wählte ich noch aus dem Ausland, ich wollte kein weiteres Jahr durch Wartezeiten auf einen Studienplatz "verlieren". Intensives Lernen und Zuarbeiten für die Kommilitonen verschafften mir Anerkennung und einen schnellen, recht erfolgreichen FH-Abschluss, aber wenig Studentenleben. Die Praktika öffneten mir Türen, weil ich jeweils einen guten, engagierten Eindruck hinterließ. Hinter der verschlossenen Klotür kotzte ich mir die einsame Seele aus dem Leib. Wieder war man stolz und glücklich.
  • Ich liebte auch die Beständigkeit, die sich entwickelte, das Dazugehören: Bald hatte ich einen Freund, ich war sehr, sehr verliebt und wollte ihm, seiner Familie und seinen Freunden alles recht machen.  Endlich weniger einsam sein, wissen, wo ich hinkann. Und ich mochte sehr das Zielstrebige, das Perfekte, das Zuverlässige, das Schwäbische, die klaren Prioritäten, das Anpackende, das Immer-Schaffende. Schon früh störte ich mich zwar an Einstellungen oder Handlungsweisen, an Ansprüchen und Habitus. Jedoch nahm ich es kaum zur Kenntnis. Meinem Freund erzählte ich erst spät etwas von meiner Erkrankung. Diesen wesentlichen Teil von mir hielt ich vor ihm fest verschlossen und gewährte nur unvollständig Einblick. Bis heute übrigens.
  • Stets nahm ich gute Zeugnisse und Beurteilungen mit: Ich bekam Jobs, ich zog um, wechselte Arbeitgeber und Städte. An Bestätigung von außen mangelte es nicht. Die Bulimie zog stets mit um. Einzelne Versuche, die Symptome loszuwerden, scheiterten - mussten scheitern. Ich brauchte die Krankheit ja noch so dringend; meine einzige, die engste Freundin, die ich überhaupt an mich heran ließ.
  • Gemeinsam entsprachen wir nun den Ansprüchen des Außen: Mein Freund wurde mein Mann. Wir arbeiteten viel und kauften eine Wohnung, wir bekamen Kinder, wir kauften ein Auto und ein Haus, wir verbrachten jährlich zwei Sommerwochen auf dem Campingplatz und lebten sparsam, ich hielt allseits den Rücken frei, mein Mann entwickelte sich im Job weiter und verdiente tapfer unser Geld, weil mein Teilzeitgehalt nur für den Urlaub reichte. Nebenbei rieb er sich mit meiner gesamten Schwiegerfamilie auf diversen eigenen und fremden Baustellen auf. Meine Bulimie wurde anorektisch und blieb und wurde wieder bulimisch und blieb. Ich wurde immer weniger und litt still, Worte fand ich keine dafür. Das Gemeinsame machte unser Alltag platt. Oder die Ansprüche, an denen wir uns festhielten, zerstörten es. Meinem Mann gaben sie Halt, ich hatte meine Bulimie. Und genug zu tun hatten wir beide, Zeit für eine Pause war nie.
  • Dann haute mein Körper die Bremse rein: Zusammenbruch, nichts ging mehr. Gut so, sage ich heute aus der Distanz, lebensrettend nahezu. Meine Aufarbeitung und Verarbeitung begann mit intensiv-therapeutischer Hilfe, endlich kümmerte ich mich um mich - und ich kümmerte mich um die Kinder.
Nun habe ich einen Vorsprung, ich lerne mich kennen: Ich arbeite an meiner Sucht, meinen Gefühlen und Gedanken, an meinen Bedürfnissen, an meinem Verhalten allgemein und meinem Essverhalten im Besonderen. Jedoch: Es fällt mir so unglaublich schwer, mein nächstes Umfeld mitzunehmen. Ich habe keine Worte. So viel ich auch reden kann, diesbezüglich fehlen mir doch die Vokabeln. Mutlos. Willenlos.

"Der rote Faden ist nichts anderes als meine Beständigkeit bei der Erfüllung der Ansprüche des Außen, wie ich sie zu begreifen glaubte." Damit stehe ich jetzt da. Ende? Nein, noch nicht. Denn so kann ich sie nicht stehen lassen, die Erkenntnis. Was folgen sollte, ist eine Schlussfolgerung, ist das Ins-Tun-Kommen

Ins Tun kommen.

Innerlich rebelliere ich. Das mache ich schon lange. Doch da ich langsam unterwegs auf meinem Weg und nicht alleine in meinem Universum bin, brauche ich Geduld, den richtigen Moment und dann die entsprechende Initialzündung. Meine Rebellion funktioniert nur MIT den Symptomen meiner Essstörung, glücklicherweise inzwischen gemäßigt. 

Die Ursachen kann ich nicht mal eben schnell beheben, auch nicht durch die Veränderung vereinzelter Umstände, aber doch Stück für Stück. 
Die Ursachen liegen weit zurück in meiner Kindheit, aber niemand trägt irgendeine Schuld! Gefestigt und behütet durch meine Erkrankung bin ich meinen Weg gegangen, ich habe mir die passenden Begleiter für mein Lebensschema selbst ausgesucht. Auch da trägt niemand irgendeine Schuld! 
Ich habe Entscheidungen gefällt, so wie ich konnte, so echt und authentisch wie ich war und bin und in aller Liebe und Hingabe. Und ich bereue sie nicht.

Aber ich gehe weiter, langsam zwar, aber beständig. Ich musste erst so alt werden, um in Ungehorsam zu gehen. Früher hätte ich es nicht gekonnt. In meinen Augen macht schon alles einen Sinn, doch nun wird es Zeit, die Stagnation aufzuheben. Einen Plan habe ich, jetzt beginnt die Annäherung an die Umsetzung.


Letzte Aktualisierung: Sonntag, 05.08.2018

Zeit für eine Pause

Umbrüche. Abschiede. Ich ziehe mich zurück, der Blog macht Pause. Gründe dafür gibt es viele, der Wichtigste: Mit dem Essen komme ich zurech...