Vortrag von Kera Deiss – Ein persönlicher Appell zur kritischen Reflexion
![]() |
Große Freiheit? |
„Glücklich
ist das neue Schön, Hungern war gestern. Ein (Ex-)Model erzählt.“ am 2. April
2019 im Hospitalhof Stuttgart
Hinweis: Der besseren Lesbarkeit wegen habe ich die große Anzahl weiter führender Links unauffällig gestaltet. Wer mit der Maus über den Text fährt, findet sie.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
mit einigen
von Euch war ich Anfang April im Hospitalhof zum Vortrag von Kera Rachel Deiss,
ehemalige Teilnehmerin bei ‚Germanys next Topmodel‘, essgestört, dann Plus Size
Model, inzwischen – im Alter von nur 29 Jahren – per eigener Definition
Motivationsrednerin und Gesundheitscoach und „völlig gesund“. Kera bot uns das
persönliche Du an – das übernehme ich hier.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
ich finde es
toll, dass Ihr dort gewesen seid, dass Ihr Eure Freundinnen, Töchter,
Schwestern mitgenommen habt und Euch den Themen stellt, dass Ihr Euch
interessiert und informiert, dass Ihr wach seid und Euch kümmert. Ich
bewundere, wie Ihr Euch einbringt und den Abend lebendig mit-gestaltet. Und ich
wünsche mir, dass Ihr miteinander im Gespräch bleibt. Dass Ihr die Mauern
durchbrecht und das Verborgene aufdecken wollt.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
Keras
Vortrag erlaubt Einblicke in die Modelwelt und nimmt dem Glamour doch einigen
Glanz. Ich finde, das hat sie richtig gut gemacht und mit großer Euphorie
vorgetragen. Zum Glück fragt eine Mutter explizit nach der Zeit bei ‚Germanys
next Topmodel‘, sonst wäre dieser Punkt vermutlich untergegangen. Dabei ist das
doch ein wesentlicher Aufhänger von Keras Vortragstätigkeit: Den schönen Schein
zu durchdringen und davon zu erzählen, um andere von diesem Druck zu befreien,
auch so sein zu wollen: dünn und schön, bekannt und (nur) deshalb beliebt.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
wovon Kera
auch nur am Rande erzählt, ist ihre Essstörung. Zwar erklärt sie unumwunden
ihre Form der Bulimie und beschreibt kurz ihre Symptomatik inklusive
Medikamentenmissbrauch und übertriebener sportlicher Betätigung. Sie erwähnt
stationäre und ambulante Therapien. Sie wirkt cool und kompetent und nah dran
am Publikum. Dann ist das Thema abgehakt. Dabei nutzt sie auch diese Facette ihres
Lebens als Aufhänger. Eine Essstörung ist wahnsinnig zentral, jahrelang
allumfassend präsent in jeder Sekunde des Tages, eine bedrohliche Erkrankung;
warum spricht sie kaum darüber?
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
wir müssen
über diese Erkrankungen reden! Wir müssen aufklären und sensibilisieren,
Betroffene sollen sich zu Wort melden – und zwar umfänglich. Das wollte ich mit
meinem Redebeitrag am 2.4. ausdrücken, den ich hiermit ergänze.
Es ist
nämlich NICHT so, dass wir durch die Bekehrung zum Leben und zum Glauben, durch
die Beschäftigung mit uns selbst, durch Yoga mal eben gesund werden.
Allerdings
klingt es bei Kera genau so: Ich entziehe mich dem Sog der Mode(l)welt und
Social Media, besinne mich auf mein Inneres, mein Leben, meine Ziele, nutze
etwas Therapie und die Essstörung geht weg. Meine neue, weichere Figur, mein
Bauch stören mich nicht, alles ist gut, ich bin schön so wie ich bin.
Hauptsache gesund. Oh nein, so einfach ist es keineswegs. Einiges hat Kera
sogar angedeutet. Ich vermute, dass sie durchaus die dunkle Seite, die elende
Abwärtsspirale, kennen gelernt hat. Und die sieht so aus:
- Die 1. Diät, 2. und 3. Diät führen zum Erfolg. Dann kommt der Heißhunger, mündet in Essanfällen.
- Gegenmaßnahmen werden ergriffen (Sport, Abführmittel, schließlich Erbrechen oder Einstellen der Nahrungsaufnahme) und sind zunächst erfolgreich. Die Außenwelt bemerkt erstmals die körperliche Veränderung, d.h. die Gewichtsabnahme, welche Bewunderung und Neid erzeugt.
- Hier entsteht die Sucht: Ich will mehr davon, immer mehr. Das eigene Handeln wird zwanghaft.
- Essanfälle und Gegenmaßnahmen erfolgen häufiger, schließlich mehrfach täglich, oder eine Nahrungsaufnahme findet nicht mehr statt. Die Gier schlägt zu.
- Ich verleugne vor mir selbst, dass ich ein Problem habe. Ich glaube, dass ich ganz normal essen kann, sobald ich genug abgenommen habe.
- Es beginnt der tägliche Horror: Angst vor jeder Mahlzeit, Angst vor der Waage, Angst vor jeder Pizza- und Cola-Party, Angst vor jedem Einkauf im Supermarkt. Es beginnt das Lügen: Keinen Hunger, habe schon gegessen, schmeckt mir nicht…
- Es beginnen Rückzug, Verstecken, totale Isolation. Ekel vor mir selbst und Scham begleiten mich in die Einsamkeit.
- Körperliche Beschwerden kommen hinzu: Unaufmerksamkeit, Müdigkeit gepaart mit Schlaflosigkeit, Kreislaufschwäche und Übelkeit, Magenschmerzen, Zahnverlust. Depressionen, völlige Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Panikattacken können entstehen. Irgendwann droht Suizid.
- Und, ganz wesentlich: Die Gedanken kreisen unaufhörlich um Essen und Nichtessen, um Verbieten und Erlauben, um ganz oder gar nicht, um perfekt oder undiszipliniert, um Können oder Versagen. Ein Dazwischen existiert nicht.
Nicht zu
vergessen: Das ‚normale‘ Leben mit Schule, Ausbildung, Studium, Beruf und
Familie geht ja weiter; das Durchhalten kostet enorme Kraft. Währenddessen
dreht sich die Spirale immer schneller im Verborgenen: Ich kann mich
meisterhaft verstellen, weil ich selbst glauben will, was ich dem Außen von mir
zeige. Hey, alles gut, alles lässig, alles im Griff, kein Grund zur Sorge! Das wiederum ist keine bewusste Entscheidung, sondern ein Automatismus,
den es zu durchbrechen gilt. Alternativen müssen gefunden und fest
installiert werden. Hierzu braucht es therapeutische Hilfen von außen und,
zwingend, Einsicht und Erkenntnis sowie den unbedingten Willen zur Veränderung
im eigenen Innen.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen,
zur
Aufklärung gehört auch zu formulieren, dass der Weg sehr, sehr weit und mühsam
ist und Rückfälle umfassen kann. Es dauert Jahre,
sich aus der Spirale heraus zu arbeiten. Ich habe außerdem Zweifel, ob es
möglich ist, wieder „völlig gesund“ zu werden. Doch das nur nebenbei. Was
gehört konkret zur Therapie? In meinem Fall sind es
- Einweisung in die Psychiatrie, Einnahme von Medikamenten
- 26 Wochen stationärer Aufenthalt in verschiedenen Kliniken innerhalb der letzten 5 Jahre, 5-13 Wochen am Stück und zu Beginn jeweils 14 Tage ohne Kontakt zu Familie und Freunden
- Jahrelange therapeutische Begleitung in Form einer Verhaltenstherapie mit wöchentlichen Sitzungen
- Jahrelange therapeutische Begleitung durch eine Ernährungsberaterin (keine Kassenleistung, Selbstzahler)
- Regelmäßige ärztliche Kontrollen beim Kardiologen, Gastroenterologen und Hausarzt
- Kontrolliertes Wiegen in Unterwäsche beim Hausarzt 1x wöchentlich, unerbittliches Festhalten der Zunahme in einer Gewichtskurve
- Therapeutische Spiegelkonfrontation, d.h. angeleitete Körperanalyse in Unterwäsche vor dem Ganzkörperspiegel, und Körperbildgruppe 1x wöchentlich über mehrere Monate
- Essen-Lernen durch Üben der sinnvollen Nahrungsaufnahme, Erlernen angemessener Portionsgrößen, Einhalten einer festen Mahlzeitenstruktur. Dabei Erkennen- und Aushalten-Lernen eines vollen Magens, von Hunger und Appetit. Keine Diät im Sinne von Reduktionskost!
- Wiederholtes, scheinbar unendliches Thematisieren und Aufarbeiten von Situationen, Schwierigkeiten, Rückfällen und den begleitenden Gedanken und Gefühlen
- Gemeinsame therapeutische Sitzungen mit Ehepartner und Familie
- Reit-, Kunst- und Bewegungstherapie sowie Entspannungstechniken im Wechsel
- Moderates Kraft- und Ausdauertraining 2x wöchentlich
Diese
Maßnahmen müssen durchgehalten werden: Dranbleiben ist die Maxime, Dranbleiben in
aller Verzweiflung und Mutlosigkeit, Dranbleiben in dem Wissen, dass es nicht
mehr so tief hinunter geht wie zuvor. Lichtblicke wird es geben. Denn mit der Auseinandersetzung, da hat Kera durchaus
recht, beginnt schon die Veränderung. Und mit der Öffnung nach außen dringt eine Ahnung von Leben nach innen.
Mein Weg war sogar noch weiter, ein Blick
zurück: Im Alter von 15 Jahren wandte ich mich an den Schulpsychologen,
zwischen Mitte und Ende 20 begab ich mich in die erste Therapie. Dann der Zusammenbruch, ich suchte Beratungsstellen
auf und fand mit Ende 30 – endlich – die für mich richtigen Therapieformen.
Nur: Gesund bin ich immer noch nicht. Jede schwierige Lebensphase katapultiert
mich zurück in alte Verhaltensmuster. Unter meinem Körper leide ich nach wie
vor und auch das Erbrechen ist mir trotz all‘ der Mühen näher als das ausgewogene, intuitive Essen. Seit über
30 Jahren bin ich krank und kämpfe damit, kämpfe ums Überleben. Übrigens habe ich durch Erbrechen zu keiner Zeit Gewicht verloren.
Ich sage Euch: Das wollt Ihr nicht haben. Und ich wiederhole, was ich an dem Abend gesagt habe: Nicht nachmachen!
Ich sage Euch: Das wollt Ihr nicht haben. Und ich wiederhole, was ich an dem Abend gesagt habe: Nicht nachmachen!
Liebe Mädchen, liebe Mütter,
liebe Frauen,
ich will,
dass Ihr versteht: Der Anfang ist schnell gemacht, doch der Ausstieg aus der
Spirale ist wahnsinnig schwer, der Preis ist viel zu hoch, siehe oben. Ich
will, dass Ihr versteht: Fangt gar nicht erst an mit dem Mist! Macht Eure
Körper nicht kaputt (super Zitat von Kera: „Ihr habt nur diesen einen!“).
Kümmert Euch um Eure Seele und lasst Eure Freundinnen, Mütter, Schwestern
teilhaben.
Ja, mir fehlt der Horror in Keras
Vortrag. Mir fehlt die Abschreckung und die Warnung. Bei ihr ist es zu einfach.
Darum: Geht kritisch mit dem Gehörten um, macht Euch bewusst Gedanken, zieht
Eure eigenen Schlüsse. Bleibt so wach und aufmerksam, wie Ihr Euch an dem Abend
gezeigt habt.
Liebe
Mädchen, liebe Mütter, liebe Frauen, liebe Alle,
bei diesem
Thema fühle ich mich den Frauen näher. Angesprochen sind genauso Jungs und
Väter, Brüder, Freunde und andere Interessierte oder Betroffene. Tragt es
weiter.
Letzte Aktualisierung: Freitag, 19.04.2019
Letzte Aktualisierung: Freitag, 19.04.2019